BEAT WISMER - DIE LANDSCHAFT ÜBERWINDEN

Im Jahre 1991 arbeitete Tamás Soós wáhrend mehrerer Monate in der Schweiz, in einem Atelier auf dem Lande. Hier malte er vor allem Landschaften, daneben auch Gemálde mit totemhaften

Gebilden auf rotem Grund: diese trugen meist den Begriff „Melancholie" in ihrem Titel. Die zahlreichen Zeichnungen, die gleichzeitig entstanden, zeugten wiederum von der Auseinandersetzung des Malers mit der Landschaft.

Schon zuvor hatte sich Tamás Soós mit dem Thema der Melancholíe bescháftigt, und es bestand auch schon eine umfangreiche Serie von Metaphysischen Landschaften. Die Malerei, die er in der Schweiz, auf dem Lande weiterentwickelte, setzte nun zwar bei diesen beiden Themenkomplexen an, gegenüber den früheren Werken aber erschien jetzt die inhaltliche Komponente zurückgedrángt: Sie war nicht mehr explixit benennbar, sie blitzte nur noch reflexartig auf. Gegenüber den zuvor entstandenen Landschaftsbildern war die barock gesteigerte Dramatik des Gegenstandes zurückgenommen, trotz grösserer malerischer Gelassenheit aber blieb die Intensitát des Bildes und der Malerei gewahrt. In der Ausstellung, die wir im Herbst 1991, am Schluss seines Aufenthaltes in der Schweiz im Aargauer Kunsthaus veranstalteten, und die das Ergebnis zahlreicher Gespráche im Atelier war, zeigten wir eine Gruppe der rotgrundigen Werke mit den schwarzen Figuren sowie eine Reihe von Landschaften. Wenn ich mich nun den Metaphysischen Landschaften zuwende, so hat dies mit meinem ausgeprágten Interesse an jenem besonderen Grenzgebiet zu tun, wo sich die Darstellung der Landschaft mit einer autonomen Malerei trifft, wo das Bild der Landschaft in gegenstandsunabhángige Malerei übergeht: Der ambivalente Ort, der sowohl als auch bedeutet und auf den auch der Begriff metaphysisch hinweist. Hier, an diesem Ort, treffen sich der Gegenstand der Malerei - was in diesem Falle nichts anderes bedeutet als: der Gegenstand als Auslöser der Malerei - und die gegenstandslose Malerei; hier treffen sich aber auchTradition und deren

Überwindung. Es gibt keine bedeutsamen Zeichen mehr im Bild, keine schwermütig sinnierende Frau in den Melancholien, und keine lokalisierbaren Landschaften in den so betitelten Bildern: Und doch teilt sich dem Betrachter der Gehalt so gesehener Landschaft mit ungebremster Suggestionskraft mit.

Die Malerei, wie sie Tamás Soós betreibt, hat einen dialektischen Schritt vollzogen, sie ist nicht bruchlose Verlángerung der Tradition, vielmehr ist in ihr malerische Tradition aufgehoben. Es ist, als ob in dieser Malerei die Landschaft als Erinnerung aufgehoben wáre - und zwar die Landschaft im doppelten Sinne: einerseits die Landschaft als Gegenüber, anderseits aber auch die Landschaft als Darstellung von Landschaft in der Geschichte der Malerei: Landschaft und „Landschaft", Landschaft als gesehene und Landschaft als gemalte.

Die Landschaftsmalerei von Tamás Soós ist der Tradition verbunden und sie ist gleichzeitig un-traditionell. Die Landschaft war ihm, ich durfte dies 1991 erleben, ein Erlebnis, das ihn zu einer autonomen Malerei führte. Die Landschaft spielt dabei vielleicht, wenn der Vergleich erlaubt ist, eine áhnliche Rolle, wie sie das Bild der Frau für Willem de Koonings abstrakten Expressionismus spielte: Zwar ein Rückgriff auf einen traditionellen Bildtypus, als solcher aber nur der Ausgangspunkt für ein künstlerisches Abenteuer und für eine malerische Untersuchung. Traditionell und untraditionell: Tamás Soós dürfte de Koonings Diktum von 1958 zustimmen:

 „Being anti-traditional is just as corny as being traditional."

Mit seiner sorgfáltigen Schichtenmalerei eröffnet Tamás Soós tiefe virtuelle Bildráume, der Betrachter, der seinen Bildern begegnet, liest die Landschaft nicht mehr in der Hoffnung, sie wieder zu erkennen, er tritt gleichsam in diese Malerei ein. Das suggestive melancholische Element ist in den Landschaftsbildern - und es bleiben, aller Freiheit zum Trotz, Landschaften - nicht mehr an Bildgegenstánde gebunden, der lesbare Inhalt ist im malerisch verdichteten Ereignis des Bildes aufgegangen; so beschriebene Malerei hat die Landschaft überwunden, und Soos' Malerei steht heute einer autonomen Malerei náher als ihrem Ausgangspunkt, der Landschaft geheissen hat: Landschaft als Erinnerung und Malerei als Erinnerung. So schrieb einmal Per Kirkeby:

Malerei ist Erinnerung. Deine Erinnerung ist der Anlass zur Malerei. Willst Du aber ein Bild malen, so vergiss alles über die Erinnerung."

Soós hat seine Malerei zu einer Sprache entwickelt, die sich nicht damit zufrieden gibt, Geschichten zu erzáhlen. In dieser Sprache aber sind die Ansátze zu unendlich vielen Geschichten enthalten. Einige davon entführen uns in die unergründlich tiefen Geheim-nisse der Malerei.

In: Tamás Soós -Einzelausstellung, Aargauer Kunsthaus, Switzerland, 1991, catalogue